Arno Geiger: Unter der Drachenwand

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Unter der Drachenwand liegt der Ort Mondsee im Salzkammergut. Anfang 1944 findet der junge Soldat Veit Kolbe hier Zuflucht, nachdem er in Rußland schwer verwundet  und zur Genesung nach Hause geschickt worden ist. Der sogenannte Heimatschuß galt bekanntlich als Glücksfall, doch bei den Eltern in Wien hält Veit es nicht lange aus. Der Vater ist ein glühender Nazi der ersten Stunde, der noch das Grab der toten Tochter mit Hakenkreuzfähnchen dekoriert und fanatisch an den Endsieg glaubt, während Veit an der Ostfront alle Illusionen verloren hat. Besonders das Gerede des Vaters über eine glänzende Zukunft bringt ihn regelmäßig in Rage, hat er doch nicht einmal eine Gegenwart – statt nach dem Abitur an der technischen Hochschule zu studieren, steckt Veit nun schon seit dem Überfall auf die Tschechoslowakei in Uniform und sieht seine Jugend verrinnen. In der Wohnung der Eltern, das begreift er rasch, ist er „unfähig, der zu sein, der ich während meiner Abwesenheit geworden war. Ich hatte den Irrsinn der Front mit dem Irrsinn der Familie vertauscht.“ Als eine Postkarte seines Onkels eintrifft, der in Mondsee Postenkommandant, also Dorfpolizist, ist, beschließt Veit spontan, sich in eine friedlichere Welt zu verziehen.

Die findet er eine halbe Fahrstunde von Salzburg entfernt tatsächlich vor: der Krieg scheint hier, jedenfalls anfänglich, weit entfernt. Veit richtet sich in der ihm zugewiesenen Kammer ein, er unternimmt lange Spaziergänge, und er schließt Bekanntschaft mit anderen Dorfbewohnern, viele von ihnen ebenfalls Gestrandete: der „Brasilianer“, der ursprünglich aus Mondsee stammt, aber lange Jahre in Südamerika verbracht hat und sich dorthin zurücksehnt; die „Darmstädterin“ Margot, die einen „Ostmärker“ geheiratet und sich mit ihrem Baby ebenfalls aus dem Elternhaus nach Mondsee geflüchtet hat; schließlich eine landverschickte Wiener Mädchenklasse mit ihrer Lehrerin. Veit schließt Freundschaft mit dem Brasilianer und mit dem Mädchen Nanni Schaller, er verliebt sich in Margot, und er muß nach und nach sein anfängliches Urteil revidieren, nach dem die „zwischenmenschliche Bilanz meines Lebens verheerend“ sei.

In der Nacherzählung klingt das trivial, und vielleicht ist es das auch. Die eigentliche Qualität des Romans liegt aber weniger in der Figuren- und Handlungskonstellation als in der Erzählerstimme Veits, die außerordentlich lebendig und plastisch ist. Veits Wahrnehmungen und Gedanken, seine Schlagfertigkeit und sein Zynismus, seine quälenden Nervenattacken, sein Glück mit Margot und die Worte, die er dafür findet – das alles hat mich von Anfang an fasziniert. Ich habe lange nicht mehr eine so durchweg überzeugende Erzählerfigur kennengelernt (ja, man/frau hat wirklich das Gefühl, Veit kennengelernt zu haben!). Unterbrochen wird Veits Erzählung durch drei Nebenstränge, in denen aus den Briefen von Margots Mutter, von Nannis Cousin Kurt und von Oskar Meyer zitiert wird, einem jüdischen Wiener, der mit keiner der übrigen Figuren zusammenzuhängen scheint. Auch die Stimmen der Briefeschreiber sind mit ihrem je eigenen Duktus vollkommen überzeugend. Leichten Punktabzug gibt es von mir für den dritten Briefwechsel, der in der Figurenkonstellation nicht motiviert ist und dessen Funktion, eine jüdische Gegenperspektive zu Veits Erfahrungswelt zu artikulieren, mir zu offensichtlich war. Ich sah förmlich die Gedankenblase über Arno Geigers Kopf (oder über dem seiner Lektorin, oder wem auch immer): „In einem Naziroman muß aber auch eine jüdische Hauptfigur vorkommen.“ Ist das so? Muß das sein?

Zum Ausgleich gebe ich Pluspunkte für die unaufdringlich spannungsgeladene Kriminalhandlung (kann man das sagen? aber so ist es!) um das Verschwinden des Mädchens Nanni und für den Mord am Ende, den der Satz Wen hat / wer / wann / womit / wie / warum / umgebracht? an der Wand des Polizeipostens schon von Anfang an angekündigt hat, wie die Pistole im Tschechow-Drama, die bekanntlich im letzten Akt abgefeuert werden muß, wenn sie im ersten Akt an der Wand hing.

Zum Schluß ein Wort zum Klappentext. Ich weiß nicht, warum der Verlag es für nötig hielt, den Roman als Dreiecksgeschichte zwischen Veit, Margot und der Lehrerin Margarete zu bewerben. Tatsächlich läßt die Lehrerin Veit bereits ganz zu Anfang des Romans abblitzen und spielt danach keine wichtige Rolle mehr. Eine solche Irreführung hat dieser Roman überhaupt nicht nötig, er hat genug Dramatik und genug Erzählstoff und vor allem einen wunderbaren Erzähler, von dem ich mich nur schweren Herzens getrennt habe.

Arno Geiger: Unter der Drachenwand. München: Hanser 2018. ISBN 978-3446258129. 480 S. € 26,-

2 Kommentare

  1. Tolle Rezension, das mit der Pistole/Tschechow stimmt ja tatsächlich, mir ist es gar nicht aufgefallen! Und über den Klappentext habe ich mich auch geärgert, der ist völlig irreführend.

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